Mainzer Aufruf - Für eine humanere und bildungsgerechtere Schule

Ein inklusives Schulsystem steht auf der Tagesordnung zeitgemäßer Schulpolitik - dieser Überzeugung sind die UnterzeichnerInnen des „Mainzer Aufrufs", zu denen auch die LSV Rheinland-Pfalz gehört. Die darin enthaltenen Sichtweisen und Forderungen werden am Montag, 5. Mai 2014 im Rahmen des „Europäischen Protesttags zur Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen" zusammen mit anderen Verbänden veröffentlicht. Dazu wird es um 13:30 Uhr eine kleine Kundgebung vor dem Bildungsministerium geben, bei der wir den „Mainzer Aufruf" den zuständigen Ministerinnen und Ministern sowie den bildungspolitischen Sprecherinnen der Koalitionsfraktionen übergeben werden.

Alle, die die Forderung „Eine Schule für Alle" unterstützen wollen, sind herzlich eingeladen, an der Aktion teilzunehmen!

Hier der Wortlaut des „Mainzer Aufrufs":

1. Das rheinland-pfälzische gegliederte Schulsystem mit im internationalen Vergleich viel zu kurzer gemeinsamer Lernzeit entspricht in seinen Grundzügen nach wie vor weder den ethischen noch den demokratischen Prinzipien, wie sie in der Erklärung der Menschenrechte, den UN-Konventionen (Kinderrechts-, UN-Behindertenrechtskonvention) und im Grundrechtskatalog des Grundgesetzes festgeschrieben sind. Ebenso entspricht es nicht dem christlichen Menschenbild, das für die Würde aller eintritt und die Wahrung ihrer Rechte fordert.

2. Die schwachen Ansätze der Bildungspolitik, Selektion zu reduzieren – Einführung Realschule plus, Ausbau von IGS, Einführung von Schwerpunktschulen – sind nicht hinreichend. Vielmehr wird das Bildungssystem dieses Landes nach wie vor von institutionell festgelegten selektiven Maßnahmen bestimmt. Neben der tagtäglichen Selektion durch ein in seiner Gültigkeit und Zuverlässigkeit seit Jahrzehnten widerlegtes Bewertungssystem sind dies vor allem:
- direkte Einschulung an Förderschulen

- vollständige Beibehaltung der Förderschulformen (insgesamt 9)
- viel zu frühe Auslese auf der Basis sozial diskriminierender Empfehlungen
- Zuweisungsdiagnostik statt inklusiver/didaktischer Diagnostik
- zwangsweise Wiederholungen
- zwangsweise Verweisungen auf ungleichwertige Schularten (Abschulungen)
- Einschränkung der freien Schulwahl bei Integrierten Gesamtschulen
- Schulzeit beenden ohne Schulabschluss

Jährlich werden dadurch Tausende Kinder und Jugendliche diesen entwürdigenden
Prozessen unterworfen.

3. Hiervon sind insbesondere Kinder und Jugendliche aus einkommensschwachen und sozial benachteiligten Milieus betroffen. Ihre Chancen, bei gleicher Leistung eine Gymnasialempfehlung zu erhalten, sind um ein Fünffaches geringer als bei Kindern, die aus finanziell besser gestellten Schichten stammen. In vergleichbarer Weise sind auch Kinder betroffen, die wegen ihres körperlichen und/oder seelischen Andersseins einschränkt sind. Ihnen wird der gleiche Zugang zur Verwirklichung ihrer Bildungschancen sowie zu einer umfassenden und selbstbestimmten Teilhabe erschwert, in vielen Fällen verweigert. Das Bildungssystem folgt damit einer Leistungs- und Verwertbarkeitsideologie, die vor allem die in diesem Sinne Leistungsstärkeren in den Blick nimmt, statt ALLE nach ihren Möglichkeiten zu fördern und zu fordern.

4. Diese systembedingten Effekte bestimmen auf vielfältige Weise das Lehrerhandeln und das Denken von allen an Schule beteiligten Gruppen. Dieses Dilemma wird durch eine konfliktscheue, vielfach den eigenen bildungsprogrammatischen Zielen zuwider handelnde, teilweise rückwärtsgewandte Bildungspolitik perpetuiert. Die vielfach und seit langem vorliegenden, empirisch gesicherten Ergebnisse der Bildungswissenschaften, die die Ungerechtigkeit, Chancenungleichheit und soziale Schieflage des Bildungssystems belegen, werden von den meisten verantwortlichen Bildungspolitikerinnen und -politikern nicht oder nicht gebührend zur Kenntnis genommen, vielmehr dem Ritual politischer Erfolgsrhetorik geopfert, von konservativer Seite meist sogar in Abrede gestellt. Die Folge dieser Erkenntnisverweigerung ist das nicht nachvollziehbare Festhalten am gegliederten und daher selektierenden Schulsystem. Damit nimmt man billigend in Kauf, dass jährlich Tausende Kinder und Jugendliche an Schule scheitern.

FAZIT

Dass tagtäglich junge Menschen im rheinland-pfälzischen Bildungssystem diesen Effekten ausgesetzt sind, dass sie etikettiert, auch entwürdigt und damit der Exklusion preisgegeben werden, verstößt eklatant gegen jede Ethik, die sich der Gleichheit aller vor dem Gesetz, der Partizipation, Integration und Inklusion mit dem Ziel einer umfassenden selbstbestimmten Teilhabe aller verpflichtet weiß.

Mainzer Aufruf

Für eine humanere und bildungsgerechtere Schule

Wir rufen alle auf,
• die im Bildungs- und Erziehungsbereich tätig sind und
• die in der Bildungs- und Gesellschaftspolitik Verantwortung
tragen (in der Politik ebenso wie in den Medien):

Setzen Sie sich mit uns ein für
• die Schaffung von Rechtsgrundlagen des Bildungssystems, die sich uneingeschränkt an der Erklärung der Menschenrechte, den UN-Konventionen und dem Grundrechtekatalog des Grundgesetzes ausrichten,
• für eine Schule ohne Selektion, in der alle Kinder und Jugendlichen willkommen sind,
• für die Verwirklichung eines individualisierenden Unterrichts, der alle fördert und fordert,
• für das Ziel, dass möglichst kein Schüler, keine Schülerin die Schule ohne einen Schulabschluss verlässt und
• für den gemeinsamen Unterricht von behinderten und nichtbehinderten Kindern und Jugendlichen in allen Schulen des Landes.

Erste Schritte hierzu sind:
• Die Ablösung von Schulnoten durch Kompetenzbeschreibungen,
• die Abschaffung der Grundschulempfehlung,
• der Wegfall des zwangsweisen Sitzenbleibens und des zwangsweisen Verweisens auf nicht gleichwertige Schularten (Abschulung),
• die jahrgangsweise Aufhebung der Förderschulen mit den Schwerpunkten Lernen und Sprache.

Setzen Sie sich mit uns dafür ein,
• dass Schulen personell, räumlich und sächlich so ausgestattet werden, damit sie den Bildungsauftrag einer inklusiven Schule erfüllen können,
• dass die Lehreraus-, -fort- und -weiterbildung an den Vorgaben einer inklusiven Schule ausgerichtet wird.

Setzen Sie sich mit uns dafür ein,
dass mehr Maßnahmen ergriffen werden, um ein öffentliches Bewusstsein zu schaffen
• für die Vorzüge sowie die gesellschaftlichen und pädagogischen Chancen menschlicher Vielfalt und des längeren gemeinsamen Lernens und
• für die Notwendigkeit eines humaneren Bildungs- und Erziehungssystems,
• für die unverzichtbare Garantie von Bildungsgerechtigkeit und
• für die gebotene Übereinstimmung unseres Bildungs- und Erziehungssystems mit den ethischen Grundlagen unserer Gesellschaftsordnung.


Rheinland-pfälzische Initiative
EINE Schule für ALLE – länger gemeinsam lernen e.V.

Internet: http://eine-schule-fuer-alle-rlp.de